Spiritualität und Älterwerden

In meiner Arbeit als Therapeutin mit alten Menschen höre ich oft, dass sich im Älterwerden die Spiritualität wandelt oder gar nicht mehr erfahrbar ist. Da sind die eine schwere anhaltende Krankheit, die eingeschränkte Mobilität, welche die bisherige Praxis verunmöglicht oder schlicht und einfach schwindende Kräfte im Alltag. Vielleicht auch hat das Herzenswort keine Resonanz mehr oder das Gottesbild sich gewandelt, und alles wird in Frage gestellt: Wo ist das DU, das Gegenüber…? Was taugt noch in der Resignation, angesichts dieser Welt? Was hilft, wenn die «Schwerkräfte» und Verzettelungen des Alltags uns ganz und gar einnehmen?
All das und Weiteres kann dazu führen, dass unsere spirituelle Erfahrung wegbricht und wir den persönlichen Zugang verlieren. Was dann? Wie können wir wieder andocken an das uns Übersteigende und zutiefst Meinende? Wie kommen wir wieder in Berührung mit der Urkraft, der Ruach-Kraft in uns?
Meine Erfahrung ist: Es geht bei der Suche nach innerer Gotteserfahrung immer in irgendeiner Form um Beziehung, um ein wieder In-VerBINDung-kommen oder in Verbindung bleiben durch alle Widrigkeiten hindurch. Die Psychotherapeutin Ingrid Riedel sagt, im Alter nehme die Bedeutung von Beziehungen zu. «Wir suchen den Sinn nicht mehr so sehr in Dingen, als vielmehr in Beziehungen»[1].Und Wilhelm Schmid, Philosoph und Autor meint: «Der Sinn im Leben ist INBEZIEHUNG sein – mit sich selber, mit der Umwelt, mit anderen Menschen und Geschöpfen und mit dem uns Übersteigenden»[2].
Das scheint mir etwas ganz Zentrales zu sein: Gerade, wenn der Radius um uns kleiner wird, die Kräfte abnehmen und die sozialen Beziehungen weniger, aber wesentlicher werden, gerade dann ist dieses IN-BEZIEHUNG-Sein mit uns selbst und mit dem, was uns von einer anderen Dimension her meint, so zentral wichtig.
Ich möchte zwei Zugänge zur Spiritualität vorstellen, die mit diesem Beziehungsgeschehen zu tun haben und die taugen können, wenn Vieles nicht mehr taugt. Also auch im Alter.
Die beiden Zugänge sind «Gegenwärtigkeit» und «Das Wesentliche leben – Was ist jetzt noch wichtig?».
1 Gegenwärtigkeit
Was hilft in die Gegenwärtigkeit zu kommen, wenn ich keinen Zugang mehr habe zu der inneren Gotteserfahrung und eingenommen bin vom Alltag, von Schmerzen, Sorgen oder Ängsten?
In der VIA CORDIS-Schulung haben wir viele Namen gehört für die göttliche Dimension. Einer davon war «Ewige Gegenwart». Wenn ich von dieser spirituellen Zusage ausgehe, dann ist in all meinen momentanen Gegenwärtigkeiten diese Ewige Gegenwart immer auch da, selbst dann, wenn ich meine persönlich eingeübte Spiritualität gerade nicht empfinden und leben kann.
Das ist mir neu bewusst geworden, als sich kürzlich mein Leben mal wieder überschlagen hatte. Am gleichen Tag erhielt eine Freundin von mir die Diagnose einer ziemlich aggressiven Form von Autoimmunerkrankung mit heftigen Schmerzen, eine andere hatte einen Autounfall mit Totalschaden ihres Autos. Sie selber erlitt ein heftiges Schleudertrauma und war sonst körperlich unversehrt. Aber den Schock trug sie noch in sich, als wir nach dem Unfall miteinander telefonierten. Ich selber habe dann die Meditationsgruppe in Zürich übernommen, die sie an diesem Abend geleitet hätte. Und merkte während des Sitzens, dass ich ebenfalls Schocksymptome spürte. Meine Knie zitterten und innerlich war ich aufgedreht und erschöpft zugleich. Nichts funktionierte richtig: weder Körper-, Atem-, noch Herzenswortzentrierung.
Nach der Meditation an jenem Abend tat ich etwas, das mir immer wieder hilft, in die Gegenwärtigkeit zu kommen. Ich ging an das Ufer der Limmat und schaute aufs Wasser. Ich schaute ohne etwas mit dem Geschauten zu machen, in der Qualität des Schauens und Wahrnehmens ohne Urteil, ohne etwas zu wollen oder zu müssen.
Der Odemraum als innerer «Puffer»
Wenn ich auf diese Weise auf das Wasser schaue, dann tritt «die Welt» in mir und um mich zurück, und ich bin ganz gegenwärtig bei dem, was ich sehe, höre und rieche. Ich fühle eine Verbundenheit, die über das ICH-bin und über DAS Wasser hinausgeht. Dieses Verbundensein ist eine zutiefst spirituelle Erfahrung, die meinen Herzensraum ruhiger und weiter werden lässt. Und in der das Schwere, das auch noch da ist, eingebettet ist. Das Entscheidende aber ist die Wirkung dieser Wahrnehmung. Indem ich wahrnehme, ohne Urteil und ohne Wertung, ohne Geschichte und unmittelbare Reaktion darauf, entsteht ein «Puffer», ein Raum zwischen dem, was betrachtet wird und mir als Betrachtende. Es entsteht ein Raum, der etwas von dieser Ewigen Gegenwart widerspiegelt, ein Odemraum, wie ich diesen «Puffer» auch nenne, der sich weit und ruhig anfühlt. Aus diesem Raum heraus kann dann ein Impuls entstehen, was jetzt gerade in der ganz konkreten Situation als Nächstes ansteht. Und dieser Impuls ist meist ein anderer als die unmittelbare Reaktion auf ein Geschehnis.
So geschah es auch an jenem Abend. Das absichtslose Schauen aufs Wasser machte mich innerlich ruhiger. Ich fühlte mich hineingenommen in das gleichmässige Fliessen des Wassers und in eine ordnende Kraft, die nicht aus und von mir selber kam. Es wurde mir klar, dass das Naheliegendste jetzt Ruhe und Schlaf waren, um am anderen Tag mit neuen Kräften weiterzuschauen, was dann gefragt sein würde bei den beiden Freundinnen.
Dieser innere Odemraum oder «Puffer» ist das eigentlich Kostbare an dieser Form von Wahrnehmung. In dem Wiederangebundensein an die Eine Dimension spüre ich fast immer nebst Ruhe auch Schlichtheit, oft auch Dankbarkeit und Staunen. Staunen, dass ich diesen Raum IN ALLEM, was in meiner und der grossen Welt gerade ist, wahrnehmen kann.
Wahrnehmen ohne Überhöhung und Abwertung
Viel schwieriger ist es, dieses absichtslose Wahrnehmen gegen innen anzuwenden. Unsere Stimmungen, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen nicht urteilend und wertend wahrzunehmen, auch wenn sie gerade nicht hell und klar sind. Doch auch da ist die Einladung, ihnen so zu begegnen; in diesem schauenden Wahrnehmen ohne Überhöhung und Abwertung, ohne eine (noch schwerere) Geschichte dranzuhängen, und ohne dem ersten Impuls nach Reaktion zu folgen. Das ist im Buddhismus mit dem Begriff «nüchtern» gemeint. Etwas so wahrzunehmen wie es IST, und diesem IST zu begegnen in «schwebender» Aufmerksamkeit, mit all unseren wachen Sinnen.
Wenn mich im Leben wieder einmal eine meiner Ängste packt, und ich weiss mittlerweile, wie sie sich ankündigen und körperlich anfühlen, kann mir dieses innere Wahrnehmen helfen. Ich nehme die Angst in meine innere Wahrnehmung und merke neu, dass meine grösste Befürchtung, die Angst würde sich durch meinen Fokus verstärken, nicht eintritt. Ich nehme sie zwar körperlich und seelisch in ihrer Ausprägung wahr, aber stärker wird sie dadurch nicht. Auf diese Weise mein Innerstes wahrzunehmen heisst das, was ich betrachte, durch mein achtsames Hinschauen zu würdigen in seinem So- und Dasein. Ich nehme wahr, was jetzt gerade an Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen in mir ist, ohne sie weghaben zu wollen. Und bin so in Beziehung zu mir, indem ich nichts verdränge. Und wieder kann da dieser «Puffer» entstehen, ein Raum - oder manchmal nur ein Spalt - der NICHT-ANGST.
Das Gute daran ist: Für das Einüben der beschriebenen zwei spirituellen Zugänge braucht es nichts als innere Präsenz. Es braucht keine Mobilität, äussere Zubereitung oder Unterstützung von aussen. Es braucht – und das ist freilich Herausforderung genug – einzig die Bereitschaft, sich auf diese Art und Weise des Wahrnehmens einzulassen.
2 Das Wesentliche leben – Was ist jetzt noch wichtig?
Der schon zitierte Wilhelm Schmid hat ein kleines handliches Büchlein geschrieben mit dem Titel «Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden».[3] Dort lädt er ein, uns mit dem Wörtchen «noch» auseinander zu setzen. Was ist jetzt noch wichtig? Was steht jetzt noch an? Was will noch erledigt werden? Was geht noch?
Mögliche Antworten darauf können Fragen nach unserem Wesen sein. Was will in unserem Leben jetzt noch wesentlich(er) werden? Heisst: unserem WESEN entsprechend, das wir sind ohne geschichtliche Überlagerung, ganz so, wie uns die Schöpfung meint. Wer sind wir auch noch, ausser dem, was Gene und Lebensumstände in diesem Erdenleben aus uns gemacht haben? Von unserem «Original» her, wie Margrith Schneider [4] sagt, aus der «Wurzel des Seins», wie der Toggenburger Komponist Peter Roth [5] es in seiner Uraufführung «Schöpfungsklang» nennt, oder mit Meister Eckehart gefragt: aus dem «Ort» in uns, an dem Gott und wir eins sind?
Wer bin ich von meinem Wesen her? Und wie kann das wieder oder noch klarer in mir und durch mich hindurch aufscheinen? Gerade jetzt in meinem gegenwärtigen Älterwerden. Wie komme ich wieder in die Verbundenheit dieser Seinsrealität, die aus einer anderen Dimension her lebt, oft aber überstellt und überlagert ist? Wenn etwas über- oder verstellt ist, braucht es vielleicht ein Umstellen. Dann müssen wir Platz schaffen. Oder etwas loslassen. Und das ist schwer! Sehr schwer für die allermeisten Menschen. Und dennoch: Wie kann ich noch mehr von dem loslassen, was mein Wesen verstellt, was es hindert in seiner Entfaltung?
Was hindert, was fördert mein Wesen?
Was unser Wesen prägt und vielleicht auch hindert, hat oft mit Rollen zu tun. Rollen, die wir vielleicht schon solange eingeübt haben. Rollen, die wir übernommen haben und Rollen, die uns zugetragen und auferlegt wurden. Nicht immer wurden wir gefragt, ob sie hinderlich oder förderlich für unser Wesen waren oder sind.
Im besten Fall bringen die gewählten und gelebten Rollen unser eigenes Wesen zum Blühen. Oft aber haben Rollen eher zu tun mit: Wir sind die oder der in einem bestimmten Kontext oder: Wir müssen, wir sollten das oder jenes tun aus einer bestimmten Rolle heraus.
Da gibt es zum einen die eindeutigen Rollen gegen aussen. Wir sind Schwester oder Bruder, Nachbarin, Partner, Vater oder Tochter und vielleicht auch Vereinsmitglied oder Rentnerin. Wir haben einen Beruf, mit dem ein Rollenbild verbunden ist, egal, ob wir ihn noch ausüben oder in Rente sind. Zum anderen sind es Rollen als Verhaltensweisen, die viel schwieriger zu durchschauen und auch loszulassen sind, auch wenn sie unser Wesen nicht fördern. Oft sind es Rollen, die wir uns schon ganz früh antrainiert haben aus dem damaligen Kontext heraus. Bei mir war es zum Beispiel die Rolle des «Alles-selber-machen-müssens». Und wie oft, wenn wir Rollen sehr früh eingeübt haben, beherrschen wir sie gut. Wir haben sie bis zur Perfektion eingeübt und immer wieder trainiert. Diese Rolle, um bei meinem Beispiel zu bleiben, ist nicht per se schlecht. Nur ist sie im Älterwerden eine nicht gerade dienliche Rolle. Denn ich komme an die Grenzen damit. Ich komme in Situationen, in denen ich fragen, oder noch ungewohnter, um Hilfe bitten muss. Das tönt banal, aber das Einüben von «Gegenrollen» braucht sehr viel Mut. Es braucht Mut und Zeit, alte Muster und Rollen loszulassen. C.G. Jung wusste darum, wenn er mehrfach betonte, dass wir das erst ab der zweiten Lebenshälfte überhaupt angehen können. Vorher ist es viel zu bedrohlich für unsere Ichstruktur. Und so gilt paradoxerweise für den inneren Reifungsweg: Dann, wenn unser Ich einigermassen gefestigt ist, können wir beginnen es wieder loszulassen – oder wenigstens zu hinterfragen.
Loslassen des Willens
Anselm Grün schreibt: «Im Leben und ganz speziell im Älterwerden müssen wir loslassen: zuerst unseren Willen, dann die Aktivität und zuletzt das Leben»[6].Fragt man Menschen, was am schwersten sei von den dreien, würden wahrscheinlich die allermeisten antworten: das Leben. Ich bin mir nicht mehr so sicher. Ich glaube, das Schwierigste ist unseren Willen loszulassen. Dieses Ich will…, ich will noch…, ich will nicht…, ich will noch nicht…, das Menschen oft bis aufs Sterbebett begleitet. Wenn wir einüben wahrzunehmen, was das mit uns macht, wenn unser Wille gerade nicht geschieht, wenn wir also einüben unseren Willen loszulassen, bevor wir die Aktivität und das Leben hier auf Erden verlieren, dann, so glaube ich, kann das Sterben einfacher sein.
Die Fragen sind somit: Was will jetzt noch deutlicher von meinem Wesen her gelebt sein? Was will an Gaben,Talenten und Aufgaben noch gegen aussen getragen und wesentlicher und somit sinnerfüllter werden? Und, genauso wichtig: Was will und muss ich nicht mehr? Was darf ich loslassen? Was hat sich überlebt? Auch an Konzepten, Ideen,Vorstellungen. Welche Rollen kann oder will ich nicht mehr weiter tradieren?
Diese beiden Zugänge, «Gegenwärtigkeit» und «Das Wesentliche leben» sind ein stetes Einüben, das manchmal besser gelingt und manchmal eben schlechter. Dann tut es gut um Menschen zu wissen, die auch einen inneren Weg gehen und ähnlichen Fragen und Zweifeln begegnen. Dann ist es so sehr hilfreich und ermutigend um ein Netzwerkwie VIA CORDIS zu wissen, in dem der Austausch darüber und das Wirken lassen in der Stille immer wieder möglich sind.
Doris Held, Psychologin und Therapeutin, Meditationslehrerin VC, Master in Spiritualität UZH
www.doris-held.ch
[1]Ingrid Riedel. 2017. Die innere Freiheit des Alterns. Patmos, Ostfildern.
[2]Wilhelm Schmid. In: Nachtcafé, SWR: Sinn des Lebens verzweifelt gesucht.6.10.2023
[3]Wilhelm Schmid. 2014. Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden.Insel Verlag Berlin
[4]Margrith Schneider 2017-2027. Begründerin der Atemtherapie auflogopsychosomatischer Basis in Wildhaus
(CH)
[5] Peter Roth, *1944 in St. Gallen. Musiker,Komponist, Chorleiter und Referent
[6]Anselm Grün. 2010. Die hohe Kunst des Älterwerdens. DTV München